Günter Grass ist wieder da!

Günter Grass: Im Krebsgang, Steidl Verlag: Göttingen 2002.

Shop: Bestellen Sie den Roman gleich hier bei amazon

Günter Grass gehört zu den bedeutendsten deutschen Schriftstellern der Gegenwart. Als Autor ist er nicht nur fleißig, sondern auch umstritten. Wurden seine Werke in den verflossenen Jahren von den Kritikern verrissen, so blieb ihm dieses Schicksal bei seinem letzten Buch ”Im Krebsgang” erspart.Berühmt wurde Grass um 1960 durch seine ”Danziger Trilogie”. Darin taucht die kesse Tulla Pokriefke auf. In ”Katz und Maus” etwa gelingt es ihr, den pubertierenden Joachim Mahlke durch einen schlichten Satz zum Masturbieren vor den Schulkameraden zu animieren, womit er allen beweisen konnte, wer den größten Dödel hat. Und der Satz, mit dem Tulla dies gelang, ist wirklich treffend und schön.
Grass bemüht die knochenleimige Tulla erneut für seine jüngste Novelle. Anfang 1945 flieht diese hochschwanger (ein Joachim kommt als Vater in Frage...) aus Danzig auf ein Schiff vor den anrückenden Sowjetsoldaten. Doch sie hat Pech: das Schiff ist die ”Wilhelm Gustloff”, dies wird von der Roten Armee unter Beschuss genommen & versenkt. Ein historisches Ereignis: der Untergang des Schiffes hat mehrere tausend Menschenleben gefordert. Tulla kann sich retten und bekommt in der Aufregung einen Sohn. Von dem Ereignis kommt sie nie wieder los. Doch sie muss erleben, dass die größte Katastrophe der Seeschifffahrt nach dem Kriege von der deutschen Bevölkerung verdrängt wird, wie auch das Leid der Vertriebenen nicht thematisiert wird, folgt man Grass’ Ausführungen.
Die Geschichte nimmt ihren Lauf. Tullas Sohn lebt mit den Erinnerungen seiner Mutter, aber auch er verdrängt sie und wird als Journalist nicht über das Thema schreiben. Er heiratet, wird Vater eines Sohnes, die Ehe scheitert, Mutter und Kind verliert er bald aus den Augen. Umso mächtiger rückt das Internet in sein Blickfeld, das Internet mit seiner Geschwätzigkeit als Portal für kluge & dumme Ideen. Auf einer ”Webpage”, professionell gemacht, wird über die Hintergründe des Schiffsunglücks berichtet, über den Namensgeber des Schiffs, seine braune Vergangenheit und seinen Tod als ”Martyrer der Bewegung”. Die Internetpräsenz wird indes von einem Bewunderer der Nazis gemacht, der Ursache und Wirkung verkennt: erst waren die Untaten der Deutschen, denen der Hass ihrer Opfer folgte.
Und nun nimmt das Drama seinen Lauf: Macher der ”Webpage” ist der Sohn des Ich-Erzählers, der Enkel von Tulla Pokriefke, die bei ihrem Sohn mit ihren alten Geschichten vom Leid und Elend der Vertreibung nichts mehr erreichen konnte, wohl aber beim Enkel. Der Enkel ist Feuer und Flamme für die Geschichte vom Unrecht an den Deutschen. Am Ende erschießt er einen ‚jüdischen‘ Gesprächspartner und Gegner, den er durch seine Internetarbeit kennen gelernt hat. Dem Mord an Wilhelm Gustloff durch einen Juden folgt sechzig Jahre später der Mord an einem ‚Juden‘ wegen Wilhelm Gustloff.
Die Geschichte, die der wortgewaltige Günter Grass da erzählt, ist nicht schlecht, aber wenn ich ehrlich bin: sie ist auch nicht wirklich gut. Sie ist flüssig geschrieben und windet sich durch zahlreiche Trampelpfade einen Weg zur Historie: Grass lässt seinen Erzähler auf Umwegen darlegen, wie genau das alles mit dem Mord an Wilhelm Gustloff und dem Untergang des Schiffes war, ohne, dass dies belehrend wirkt. Natürlich hat die Geschichte ihren schaurigen Höhepunkt und auch ihre Binsenweisheiten. Mehr noch: Grass spielt mit sich selbst und der Danziger Trilogie und läuft wirklich zur Höchstform auf - soweit ich seine wortschwangeren Bücher gelesen habe.
Aber, und nun kommt es eben. Wenn sich Grass der Person der Tulla bedient und sie wieder zum Leben erweckt, sollte man sie wiedererkennen. Dies ist mir nicht geglückt. Und nur ihretwegen habe ich das Buch überhaupt gelesen.
Auch der Aussage des Buches, die Deutschen hätten sich dem Elend der Vertriebenen nicht gestellt, kann und will ich nicht zustimmen. Ich halte diese Behauptung von Grass für schlichtweg falsch, und wer sein Buch genau liest, findet auch Hinweise darauf, dass dies so nicht stimmt. Mehr am Rande erfährt man, dass der Untergang der ”Wilhelm Gustloff” Ende der fünfziger Jahre verfilmt wurde. Nun wissen wir alle, dass germanische Filme der fünfziger Jahre nicht gerade Brüller waren, aber wann wurde in dieser Zeit das Leiden der KZ-Häftlinge im bundesdeutschen Film thematisiert? Zur selben Zeit veröffentlichte Grass seine ”Blechtrommel”, der zwei weitere Werke zur Geschichte des Danziger Niedergangs folgten. Gerade in den 50er & 60er Jahren waren die Forderungen der Vertriebenen ständig Gegenstand politischer Erörterungen. Eine fette Studie wurde in Auftrag gegeben, die das Leid der Verfolgung dokumentierte. Der Abschlußbericht allerdings war unerwünscht: die Historiker erinnerten die Politiker eben an Ursache und Wirkung. Und wenn deutsche Vertriebenen-Funktionäre noch in den 80er Jahren mit der Forderung ”Schlesien bleibt unser” für politische Furore sorgten, dann darf sich niemand wundern, wenn es Leute gibt, die das nicht hören wollen.
Ja, den Vertriebenen wurde Unrecht angetan. Ja, es ist wichtig, sich auch dieser Menschen zu erinnern. Ja, auch sie wurden Opfer.
Indes: was Grass, der sich in der Vergangenheit große Verdienste erworben hat, an die untergegangene deutsche Kultur im Osten zu erinnern, bewogen haben mag, hier eine Politkeule zu schwingen, die vollständig unangebracht ist, bleibt mir unerfindlich.
Was soll’s. Nett zu lesen ist sein Schmöker allemal.

(aus: Zauberhut, Juli 2002, S. 23-26)

Zurück zur Übersicht über die Rezensionen
Zur bamby-Startseite